Nie zu alt für neue Märchen

Er war schon über achtzig Jahre alt
und seine große Liebe lange tot.
Er zog ins Henriettenstift am Wald,
da traf er sie um fünf beim Abendbrot.
Sie schaute auf und er sah ihr Gesicht.
Er sah die Falten und ihr ganzes Leben.
Im warmen Strahl vom Abendsonnenlicht,
als wollte ihm die Welt ein Zeichen geben.

Er legte ihr ein Veilchen aufs Tablett
und sagte "Guten Tag, ich heiße Jan!"
So stand er da in Fliege und Jackett
und ihr Herz, das fing noch mal zu klopfen an.
Er reichte ihr den Arm und sie ging mit:
"Wer weiß, wie viele Sommer wir noch haben."
Die Sonne brach durchs Alltags-Anthrazit,
die Welt war plötzlich wieder voller Farben.

Noch einmal alles wagen,
alles leben, nichts vertagen!
Sie trampten Hand in Hand bis nach Bayreuth
und plantschten wie zwei Kinder
im Marktplatzbrunnen mitten in der Stadt,
in Feinripp und voll Seligkeit.
Und knipsten küssend Selfies und versandten
sie kichernd an die Freunde und Verwandten.

Sie sangen Beatles-Lieder im Duett
und tanzten bis zum Gasthof Waldesruh
und nahmen sich die Hochzeitssuite mit Himmelbett.
Sie zog lächelnd den geblümten Vorhang zu.
Man sah sie überall, doch nie allein.
Zwei liebevolle graue Kuschelbärchen.
Trotz dritter Zähne und mit Hinkebein.
Wir sind nie zu alt für neue Märchen.



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