Spiegelbild

Mit Anfang Zwanzig verspürte ich das starke Bedürfniss jemand anderes zu sein
Ich wollte mir mein altes Leben wie Federn vom Leib reißen
Zitternd und nackt würde ich dastehen und darauf warten, dass mir ein neues Fell wachse
Mir gefiel es zu der Zeit, mein eigenes Gesicht auf Fotos und im Spiegel zu sehen und mich darin nicht wiederzufinden
Sondern eine andere Version meiner selbst hineinzuprojizieren, für die ich begehrt werden wollte

Eines Abends fand ich mich auf dem Klo einer Diskothek wieder
Es roch nach Pisse und in meinen Ohren dröhnte es
Ich stand meinem leicht abgefuckten aber gutaussehenden Spiegelbild gegenüber
Das mir auf angenehme Weise immer fremder wurde
Und aus einer Laune heraus, bot ich ihm an, mit mir den Platz zu tauschen
Während ich in den Spiegel trat, sah ich dabei zu
Wie es seine ersten kindlichen Schritte machte und das Klo verließ

Ich konnte ihm zusehen, wie es zwischen all den schwitzenden, stampfenden Körpern seinen Platz einnahm
Zunächst stand es noch etwas ungelenk in der Gegend rum
Es hatte noch zu viel von mir selbst in sich
Hatte mein Scham noch nicht überwunden
Doch es lernte schnell, wie sie zu tanzen, zu ficken und zu sprechen
Bis es jede Nacht im flackernden, skrupellosen Licht der Diskothek stand
Und mit dem gleichen entleerten Blick wie seine Vorbilder, endlich diese so lang ersehnte Ekstase verspürte

Meine Versuche es zu Spiegel zurückzuholen, scheiterten vergebens
Losgelöst von meiner Kontrolle stürzte es sich auf das Leben
Um es zu verschlingen
So sehr, wollte es geliebt werden



Credits
Writer(s): Lennart Thomas
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