Zeugnistag (Live)

Gibt es natürlich unter den schönen Erinnerungen auch eine
Die sich auch mit zunehmendem Abstand
Und je mehr sie in die Vergangenheit rückt
Doch nicht so recht verklären und vergolden will
Und es bleibt nach wie vor eine rabenschwarze Erinnerung
Und es ist der Gedanke an die 14 Jahre
In denen ich die verschiedenen Schulbänke in dieser Stadt gedrückt habe

Ich denke, bereits aus der Zahl 14
Kann man sehen, dass ich das mit besonderem Nachdruck
Und besonders sorgfältig getan habe, und
Tja, 'ne ganze Weile hab ich mich deswegen geschämt
Bis ich festgestellt habe, dass ich dieses Schicksal
Mit Leuten wie Albert Einstein, Wernher von Braun, Nietzsche
Und Thomas Mann glaub ich auch, und noch 'ne ganze Reihe mehr, teile

Also jedenfalls denk ich
Mein ich, dass wir Sitzenbleiber in ganz guter Gesellschaft sind
Also, wirklich keinen Grund zum Komplex mehr

Wenn ich zurückdenke, bleibt eigentlich nur
Erinnerung an einen einzigen schönen Tag
In diesen 14 Jahren, und das war, ja, und
Das sollte sich auch erst im Nachhinein herausstellen
Das war paradoxer Weiße nämlich noch zu allem Überfluss
Ein Zeugnistag

Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein
Und wieder einmal war es Zeugnistag
Nur diesmal, dacht ich, bricht das Schulhaus samt Dachgestühl ein
Als meines weiß und hässlich vor mir lag

Dabei waren meine Hoffnungen keineswegs hochgeschraubt
Ich war ein fauler Hund und obendrein
Höchst eigenwillig, doch trotzdem hätte ich nie geglaubt
So ein totaler Versager zu sein

"So, jetzt ist es passiert", dacht ich mir: "Jetzt ist alles aus"
Nicht einmal eine Vier in Religion
Oh Mann, mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus
Sondern allenfalls zur Fremdenlegion

Ich zeigt es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sie
Schön bunt, sah nicht schlecht aus, ohne zu prahlen
Ich war vielleicht 'ne Niete in Deutsch und Biologie
Dafür konnt ich schon immer ganz gut malen
Dafür konnt ich schon immer ganz gut malen

Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen raus
Die Fälschung war wohl doch nicht so geschickt
Der Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse raus
Da stand ich da, allein, stumm und geknickt

Dann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurück
Voll Selbstgerechtigkeit genoss er schon
Die Maulschellen für den Betrüger, das missratene Stück
Diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn
Diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn

Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
Und sagte ruhig: "Was mich anbetrifft
So gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran
Das ist tatsächlich meine Unterschrift"

Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug
Gekritzelt zwar, doch müsse man verstehen
Dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug
Dann sagte sie: "Komm, Junge, lass uns gehen"
"Komm, Junge, lass uns gehen"

Ich hab noch manches langes Jahr auf Schulbänken verloren
Und lernte widerspruchslos vor mich hin
Namen, Tabellen, Theorien von hinten und von vorn
Dass ich dabei nicht ganz verblödet bin

Nur eine Lektion hat sich in den Jahren herausgesiebt
Die eine nur aus dem Haufen Ballast
Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt
Ganz gleich, was du auch ausgefressen hast
Ganz gleich, was du auch ausgefressen hast

Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern mich
Da rausholten, und wo bleibt die Moral?
Die Schlauen diskutieren, die Besserwisser streiten sich
Ich weiß es nicht, ist mir auch egal

Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt
Und nicht zuletzt natürlich dir, mein Kind
Wenn's brenzlig wird, wenn's schiefgeht, wenn die Welt zusammenfällt
Eltern, die aus diesem Holze sind
Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind

Ich glaube, dass es mir damals, nach dem Erlebnis
Nicht mehr viel ausgemacht hätte
Wenn ich dann doch irgendwann mal von der Schule gefeuert worden wär
Weil meine Interessen tatsächlich immer auf
Ganz anderen Gebiet gelegen haben, und das hätte mich getröstet



Credits
Writer(s): Reinhard Mey
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