Ab in die Kiste

Ich weiß es noch wie heute, ich war damals grade acht
und hab dich ziemlich hilflos, doch mit Liebe handgemacht.
Der Kopf zu klein, die Locken grün, die Flügel viel zu breit.
Nicht hübsch, jedoch der Wille zählt, und Mama hat's gefreut.
Am besten Heiligabend aller Zeiten
begannst du mich durchs Leben zu begleiten.
An Weihnachten war's niemals mehr so schön.
Das alte Jahr ist nun vorbei,
ich pack dich ein, jetzt hast du frei.
Ab in die Kiste, ruh dich aus, auf Wiedersehn.

Mit 18 eigne Bude, aber klar: an Heilignacht
war ich daheim zu Gast, hab meine Wäsche mitgebracht.
"Statt Geschenken", sprach ich grinsend, Mama seufzte leis, und du
sahst mit mildem Engelslächeln von der Christbaumspitze zu.
Papa fragte: Wann gibt's endlich Essen?
Ermahnte mich, ich sollte nicht vergessen,
mal schleunigst wieder zum Friseur zu gehn.
Das alte Jahr ist nun vorbei,
ich pack dich ein, jetzt hast du frei.
Ab in die Kiste, Lockenkopf. Auf Wiedersehn.

Mit 28 große Liebe, ich kam nicht allein.
An Heiligabend sollte auch mein Liebster bei mir sein.
Und ausgerechnet Mama schwieg und sagte nichts dazu.
Und ausgerechnet Papa war mit Gunnar gleich per du.
Mein Gunnar lobte schmatzend die Rouladen,
und noch vorm Nachtisch fand er Mamas Gnaden.
Auch du hast ihn ganz selig angelacht.
Das alte Jahr ist nun vorbei,
ich pack dich ein, jetzt hast du frei.
Ab in die Kiste, Engelskind, und gute Nacht.

Mit 38 hab ich Heiligabend nur geflennt,
denn Gunnar hat sich mitten im Advent von mir getrennt,
weil ein blondgelockter Heiland namens Niklas zu ihm kam
und "Liebe deinen Nächsten" leider allzu wörtlich nahm.
Ende dreißig, Single und frustriert.
Du zucktest mit den Flügeln: Tja, passiert!
Stimm die Harfe für den nächsten Song!
Das alte Jahr ist nun vorbei,
ich pack dich ein, jetzt hast du frei.
Ab in die Kiste, see you soon, my dear, so long.

Das Weihnachtsfest mit 48 war besonders schwer,
denn plötzlich sang im Himmelschor ne Engelsstimme mehr.
Der Stern im Fenster sah auf einmal ganz verloren aus.
Die Kugeln glänzten matter, und der Regen fiel vorm Haus.
Der Rotkohl aus der Dose, doch dieselbe Zahl Rouladen
von Männerhand verschnürt mit einem tränengrauen Faden.
Heintje hat "O Tannenbaum" gesungen.
Und wir ham mit den Tränen schwer gerungen.
Bei "Stille Nacht" war's dann um mich geschehn.
Da schautest du zu mir
und sagtest: Mama ist doch hier!
Ab in die Kiste, Seelentrost, auf Wiedersehn.

Jetzt bin ich 58 und du bist zu mir gezogen –
oder nein – als Engel bist du mir wohl eher nachgeflogen.
Sechs Wochen jeden Winter stehst du lächelnd im Regal,
und deine grünen Locken machen mich sentimental.
Und manchmal schau ich auch schon im August
aus unbegreiflich wilder Weihnachtslust
nach dir, das hab ich schon als kleiner Junge so gemacht.
Nun leg ich dich zur Ruh,
deck dich mit Samt und Sorgfalt zu.
Bis nächstes Jahr, mein Engel, danke, und träum süß, gute Nacht.



Credits
Writer(s): Rainer Bielfeldt
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